Das Konzept vulnerabler Gruppen bezieht sich auf soziale Kategorien, die in der Regel als gefährdet wahrgenommen und beschrieben werden, da ihre gesellschaftliche Stellung sie anfälliger für Krisen und Probleme macht. Der Begriff ist breit gefasst. So kann er sich auf Kinder im Allgemeinen beziehen, aber auch auf Waisen, unbegleitete Minderjährige, Straßenkinder, Kindersoldaten oder Kinder, die von HIV/AIDS betroffen sind. Er bezieht sich auch auf Gefangene, Schwangere, Geflüchtete, Menschen mit Behinderungen, psychischen Erkrankungen oder Personen, die wirtschaftlich oder bildungsmäßig benachteiligt sind. Menschen oder Personengruppen, die in diese sozialen Kategorien fallen, werden oft marginalisiert und sind innerhalb der Gesellschaft weniger sichtbar.
Als ein Kennzeichen der menschlichen Existenz wird Vulnerabilität, d.h. die Anfälligkeit für Gefahren oder der Bedarf an Unterstützung, in geschichtlich wechselnden Umständen verstanden. Nach heutigem Verständnis entsteht Vulnerabilität, wenn ungleiche soziale und politische Kräfte die Bewältigungs- und Handlungsmöglichkeiten von Menschen einschränken. Dies beeinträchtigt das Wohlergehen, was sich dann wiederrum auf Möglichkeiten von Resilienz, Handlungsspielraum und Anpassungsfähigkeit auswirkt. Globale Flucht, politisch-militärische Spannungen und wiederkehrende ökologische und humanitäre Krisen werden als Ursachen angesehen, die die Erfahrung, Verteilung und Bewertung von Vulnerabilität beeinflussen (Trundle, Gibson & Bell 2019, 198-199).
Die Komplexität der als "Vulnerabilität" kategorisierten Gruppen stellt eine Herausforderung für Pädagog*innen dar (Hoadley 2008, Trani et al. 2011). Für einen adäquaten Umgang mit sozialen Gruppen, die als "vulnerabel" kategorisiert werden, muss untersucht werden, wie Pädagog*innen, Studierende und Bildungseinrichtungen verschiedene Arten von Vulnerabilität wahrnehmen und welche Strategien sie anwenden, um auf verschiedene Einschränkungen zu reagieren. Um Wege zu einer verantwortungsvollen Bildung zu finden, müssen Bildungsziele definiert, politische Strategien zu deren Erreichung entworfen und Formen der Umsetzung und Aneignung entwickelt werden, die die Integration und den sicheren Zugang zu Bildung und die aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben fördern.
Vulnerabilität ist ein schwer zu definierendes Konzept, weil es auf seinem Weg durch die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen neue Assoziationen und Bedeutungen mit sich bringt (Honkasalo 2018: 3-4). Im Allgemeinen unterscheiden die Sozialwissenschaften die Gefährdung von Gruppen aufgrund von Faktoren wie Alter, niedrigem sozioökonomischem Status oder schlechter psychologischer, physischer oder sozialer Gesundheit (Flaskerud & Winslow 1998). Seit den 1980er Jahren hat eine wachsende Menge an Literatur zur Vulnerabilität einen konzeptuellen Rahmen für die Definition dieses Begriffs geschaffen (Brooks 2003, Nichiata et al. 2008). Dennoch berücksichtigen die derzeitigen Ansätze zur Klassifizierung gefährdeter Gruppen häufig nicht die sozialen Dimensionen der Vulnerabilität, die den Einzelnen betreffen, wie z.B. verschiedene Formen des Missbrauchs und der sozialen Ausgrenzung (Nyamathi Koniak-Griffin & Greengold 2007).
Anthropologische Ansätze zu vulnerablen Gruppen fallen unter zwei miteinander verknüpfte Themen: strukturelle Vulnerabilität (structural vulnerablity) und verkörperlichte Vulnerabilität (embodied vulnerability). Strukturelle Vulnerabilität verdeutlicht einen Mangel an politischer oder sozialer Handlungsfähigkeit, Formen der sozialen Ausgrenzung und strukturelle Faktoren, die bestimmte Gruppen erst prekär machen (Leatherman 2005). Anthropolog*innen verwenden den Begriff, wenn sie versuchen, die Muster ungleicher Risiken und Ausgrenzung nachzuvollziehen, die aufgrund von Formen der Ungleichheit und Diskriminierung entstehen (Colton 2008). Sie betrachten Vulnerabilität als das Fehlen oder die Abwesenheit einer bestimmten Ressource oder einen prekären Zustand, der die Chancen und Wahlmöglichkeiten der beforschten Menschen einschränkt (Gomberg-Muñoz 2010). Anthropolog*innen verwenden das Konzept der verkörperlichten Vulnerabilität, um zu untersuchen, wie strukturelle Vulnerabilitäten wie Ungerechtigkeit, Armut, Rassismus, soziale Unsichtbarkeit, Marginalisierung und Diskriminierung von Einzelpersonen und Gruppen verkörpert werden (Willen 2012). Anthropolog*innen haben daher insbesondere untersucht, wie verschiedene Arten von Vulnerabilitäten von Betroffenen verstanden, ausgeübt und verhandelt werden.
Debatten rund um gefährdete Gruppen sind eng mit Moral verbunden. Laut Kleinmann ist dies eine Reaktion auf zwischenmenschliche Erfahrungen mit dem Leiden anderer (1997: 66). De Martino bezieht Vulnerabilität auf die Unsicherheit durch Krankheit, Tod, Armut oder anderen sozialen oder persönlichen Situationen. Er betrachtet das menschliche Leben als prekär, weil es so viele alltägliche Situationen gibt, in denen der Menschen Gefahr läuft, seine Fähigkeit zu verlieren, eine aktive Akteur*in und passive Empfänger*in der Umstände zu sein (2015 [1959]).
In Bildungskontexten ist das Identifizieren und Klassifizieren einer bestimmten sozialen Gruppe als vulnerable Gruppe auch immer ein Prozess des Othering und Essenzialisierens (siehe Beitrag im Buch) und eine Art der Schaffung von Machthierarchien innerhalb der Bildungspraktiken. Wenn bestimmte Gruppen von Schüler*innen als "vulnerabel" definiert werden, stehen sie so im Gegensatz zu nicht gefährdeten Gruppen und können leicht als passiv, machtlos und defizitär betrachtet werden (Marino & Faas 2020: 4).
Flaskerud und Winslow (1998) haben ein konzeptuelles Modell mit drei relevanten Merkmalen für die Definition von Gruppen als gefährdet vorgeschlagen: I) Verfügbarkeit von Ressourcen, II) relatives Risiko und III) Gesundheitszustand. Die Ressourcenverfügbarkeit wird als die Verfügbarkeit von sozioökonomischen Ressourcen (Humankapital und sozialer Status) konzeptualisiert. Das relative Risiko bezieht sich auf die Vulnerabilität verschiedener Gruppen gegenüber verschiedenen gesundheitlichen Ungleichheiten, die sich aus Verhaltens- oder Lebenspraktiken und biologischer Anfälligkeit ergeben. Der Gesundheitszustand steht in Zusammenhang mit Mustern erhöhter Krankheitsanfälligkeit und vorzeitiger Sterblichkeit in verschiedenen Bevölkerungsgruppen, die durch das Alter und Geschlecht einer Person bestimmt wird. Das Zusammenspiel von Ressourcenverfügbarkeit, relativem Risiko und Gesundheitszustand macht deutlich, wie komplex es ist, zu erkennen, wer innerhalb einer bestimmten Bevölkerungsgruppe vulnerabel ist.
Kinder, die als vulnerabel gelten, bilden nie eine homogene, d.h. einheitliche Gruppe; "gefährdet" weist auf eine Vielzahl von Vulnerabilitäten, Merkmalen und Bildungsbedürfnissen hin, die bei der Gestaltung von Schullehrplänen, Unterrichtsformen und der Ausbildung von Pädagog*innen berücksichtigt werden sollten (Canning 2011, Court 2017).
Wood & Goba (2011) untersuchten den Begriff der Vulnerabilität im Zusammenhang mit Programmen der Lehrer*innenausbildung in einer Studie, die sie in der Provinz Eastern Cape in Südafrika durchführten. Vulnerabilität, wie sie sie definierten, bezog sich auf jedes Kind, dessen Grad der Vulnerabilität infolge von HIV und AIDS zugenommen hatte, und konnte jedes Kind unter achtzehn Jahren einschließen, das in eine oder mehrere der folgenden Kategorien fiel: einen oder beide Elternteile verloren hatte oder den Tod anderer Familienmitglieder erlebte; vernachlässigt, verlassen oder missbraucht wurde; einen Elternteil oder Vormund hatte, der krank war; ein erhöhtes Armutsniveau erlitten hatte; Opfer von Menschenrechtsverletzungen war; selbst HIV-positiv war. Die Forscherinnen bestätigten, dass sich die Folgen solcher Probleme insbesondere im Klassenzimmer niederschlugen, da die Lehrer*innen Mühe hatten, das Lehren und Lernen mit den Anforderungen in Einklang zu bringen, die sich aus den erhöhten Ängsten, Traumata, Diskriminierungen und der zunehmenden Armut der Lernenden ergaben.
Die Studie untersuchte weiterhin die Wahrnehmung der Ausbildungsprogramme durch die Lehrer*innen. Ein besonderer Fokus lag darauf, wie Lehrer*innen sich selbst als für den Umgang mit Problemen gerüstet sahen, die sich aus der Tatsache ergeben, dass sie verwaiste und verletzliche Kinder in ihren Klassenzimmern haben. Vierzehn ehrenamtliche Lehrer*innen, alle weiblich, wurden aus zwölf Hoch- und Grundschulen in benachteiligten städtischen Township-Gebieten ausgewählt. Die Daten wurden durch unstrukturierte Fokusgruppen-Interviews und eingehende Diskussionen über die Erfahrungen der Teilnehmer*innen gesammelt. Die Hauptforschungsfrage war, wie Lehrer*innen der Umgang mit verwaisten und gefährdeten Kindern in Schulen erleichtert werden kann. Im Laufe der Forschung ergaben sich zwei Unterfragen: a) Welche Bedürfnisse wurden von den Lehrer*innen im Hinblick auf die Unterstützung vulnerabler Kinder wahrgenommen, und b) welche Empfehlungen könnten gemacht werden, um die Lehrer*innen besser auszurüsten und zu unterstützen, damit sie mit den Problemen vulnerabler Kinder in den Schulen umgehen können.
Aus dem empirischen Material geht hervor, dass trotz der zahlreichen von staatlichen Stellen finanzierten Lehrerausbildungsprogramme den persönlichen und beruflichen Bedürfnissen der Lehrer*innnen nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt worden war. Die Verantwortlichen der Ausbildungsprogramme hatten sich nicht mit den Lehrer*innen über die gelebte Realität des Unterrichts an einer Schule beraten, an der HIV und AIDS die Vulnerabilität der Mehrheit der Kinder erhöht hatte. Im Gegenteil, die Ausbildungsworkshops positionierten Lehrer*innen als passiven Empfänger von Wissen und nicht als aktiven Mitwirkende*n an der Entwicklung von Strategien, die auf Expertenwissen und dem Verständnis des spezifischen Umfelds basieren.
Die teilnehmenden Lehrer*innen konnten den Kursgestalter*innen wertvolle Anregungen geben, die letzteren halfen, ihre Workshops so umzugestalten, dass ihre Relevanz erhöht würde. Die Ergebnisse zeigten, dass alle Lehrkräfte an der Schule zusammenarbeiten müssten, um die Betreuung und Unterstützung vulnerabler Kinder anzugehen und mit externen Organisationen und anderen Unterstützungsquellen, einschließlich Eltern und den jeweiligen Gemeinschaften, zusammenzuarbeiten. Die Studie ergab, dass zur Lehrplanentwicklung, der lokale Kontext und die unterschiedlichen Bedürfnisse der Lehrer*innen bei der Gestaltung jedes Programms der Lehrer*innenausbildung berücksichtigt werden sollten. Der gegenwärtige Ansatz zur Ausbildung von Lehrer*innen im Hinblick auf das Unterrichten und die Unterstützung verwaister und verletzlicher Kinder sollte von den gelebten Erfahrungen der Lehrer*innen ausgehen, von denen aus die Organisationen Ausbildungs- und Hilfsinitiativen entwickeln könnten, die den Bedürfnissen sowohl der Lehrenden als auch der Lernenden entsprechen.
Vulnerabilität, Prekarität, Ausgrenzung, Essentialismus, Othering, Reflexivität, Doing School
Brooks, N. (2003). Vulnerability, Risk and Adaptation: A Conceptual Framework. Norwich: Tyndall Centre for Clinical Change Research and Centre for Social and Economic Research on the Global Environment.
Canning, R. (2011). Reflecting on the reflective practitioner: vocational initial teacher education in Scotland. Journal of Vocational Education & Training, 63(4). (609-617). DOI: 10.1080/13636820.2011.560391
Colton, Cr., E. (2008). Vulnerability and Place: Flat Land and Uneven Risk in New Orleans.
American Anthropologist, 108(4). (731–773).
Court, J. (2017). ‘I feel integrated when I help myself’: ESOL learners’ views and experiences of language learning and integration. Language and Intercultural Communication, 17(4). (396–421).
De Martino, E. 2015 [1959]. Magic: A Theory from the South. Chicago: HAU Books.
Flaskerud, J., & Winslow, B. (1998). Conceptualizing Vulnerable Populations Health-Related Research. Journal of Nursing Research, 47(2). (69-78).
Gomberg-Muñoz, R. (2010). Willing to Work: Agency and Vulnerability in an Undocumented Immigrant Network. American Anthropologist, 112 (2). (295–307).
Hoadley, Urs. (2008). The boundaries of care: Education policy interventions for vulnerable children. In Maile, S. (Ed.) Education and Poverty Reduction Strategies. Issues of Policy Coherence. Colloqium Proceedings. HSRC Press. (136-156).
Honkasalo, M-L. (2018). Guest Editor’s Introduction: Vulnerability and Inquiring into Relationality. Journal of the Finnish Anthropological Society, 43(3). (1-21).
Kleinman, A. (1997). Writing at the Margin: Discourse Between Anthropology and Medicine. Berkeley: University of California Press
Leatherman, Th. (2005). A Space of Vulnerability in Poverty and Health: Political–Ecology and Biocultural Analysis. Ethos, 33(1). (46–70).
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Trundle, C., Gibson, Η., & Bell, L. (2019): Vulnerable articulations: the opportunities and challenges of illness and recovery. Anthropology & Medicine, 26 (2). (197-212).
Willen, S. S. (2012). Migrant ‘Illegality’ and Health Mapping Embodied Vulnerability and Debating Health Related Deservedness. Social Science and Medicine, 74. (805–811).
Wood, L. & Goba, L. (2011). Care and support of orphaned and vulnerable children at school: helping teachers to respond. South African Journal of Education, 31. (275-290).
Ioannis Manos, Georgia Sarikoudi (Griechenland)
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